Annett Leisau

In den letzten Jahren haben sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen damit beschäftigt, kulturabhängige Grundzüge elterlicher Erziehung zu definieren. Zwei grundlegend verschiedene kulturelle Modelle mit ihren jeweiligen Erziehungsstilen und Erziehungszielen wurden identifiziert und sollen im Folgenden genauer beschrieben werden:
Das ist einerseits das Modell der Autonomieorientierung (beispielhaft steht hier die westliche Mittelschichtfamilie) und andererseits das Modell der Verbundenheitsorientierung (beispielhaft steht hier die traditionelle Bauernfamilie).

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Beide Modelle halten sich nicht an irgendwelche Landesgrenzen. So finden wir in Deutschland Vertreter sowohl des Typus „Autonomieorientierung“ als auch des Typus „Verbundenheitsorientierung“ und zudem noch diverse Mischformen zwischen beiden Prototypen.

Modell der Autonomieorientierung

Laut Heidi Keller ist das Modell der Autonomieorientierung durch eine hohe Gewichtung von Autonomie und eine eher geringe Gewichtung von Verbundenheit gekennzeichnet.

Als Autonomie ist die Fähigkeit definiert, Kontrolle über das eigene Leben sowie über die eigenen Entscheidungen und Handlungen zu erlangen“ (vgl. Borke/Keller 2014, S. 17).

In diesem Modell steht das Individuum mit seinen Wünschen, Bedürfnissen, Plänen, Vorstellungen und Zielen in Vordergrund. Der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Kindern wird von Anfang an eine große Bedeutung beigemessen, was sich beispielsweise darin äußert, dass Kleinkinder schon relativ früh daran gewöhnt werden sollen, alleine zu schlafen. Werte wie persönliche Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, Selbstbestimmung und Realisierung eigener Wünsche und Bedürfnisse gelten als zentral. Das Kind als gleichberechtigter Partner steht im Mittelpunkt der Erziehungsbemühungen (Keller, 2013, S. 13).

Als wichtige Sozialisationsziele für Kinder in den ersten drei Lebensjahren gelten

  • Das Kind soll Talente und Interessen entwickeln und seine eigenen Vorstellungen klar ausdrücken.
  • Dies ermöglicht die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, einem wichtigen Baustein der Autonomieorientierung.
  • Eltern bevorzugen eine sogenannte distale Sozialisationsstrategie: Im Zentrum der Betrachtung steht das Kind, das so als autonomer Gesprächspartner verstanden wird. Ihm wird die exklusive Aufmerksamkeit durch seine Eltern geschenkt. Der Körperkontakt zum Kind beschränkt sich meist auf wenige Berührungen von Hand und Fuß und hat im Rahmen der Stimulation keine Bedeutung. Beschäftigung wird mit Anregung, Zuwendung und kognitiver Stimulation gleichgesetzt.

Beispiel
Das Stillen des Kindes ist im Rahmen der Autonomieorientierung häufig auf das erste Lebensjahr beschränkt, im Anschluss daran stellt die Unterstützung beim Erlernen der selbstständigen Nahrungsaufnahme ein wichtiges Erziehungsziel dar. Das gemeinsame Essen wird als soziale Aufgabe verstanden. Die Familie nimmt gemeinsam die Mahlzeiten zu sich, um gleichzeitig die Zeit zur Kommunikation zu nutzen (vgl. Weberling, 2015, S.8).

Modell der Verbundenheitsorientierung

Demgegenüber zeigen viele Migrantenfamilie viele Kennzeichen des kulturellen Modells der Verbundenheitsorientierung.

„Als Verbundenheit ist die psychologische und / oder ökonomische Verwobenheit zwischen Personen definiert“ (vgl. Borke/Keller 2014, S. 17).

Im Zentrum steht hier die soziale Gemeinschaft mit ihren hierarchischen Strukturen: z. B. Ältere – Jüngere; Mann – Frau. Zentraler Wert ist die hierarchische Verbundenheit. Gehorsamkeit und Respekt sind wichtige Erziehungsziele. Das eigene soziale Verhalten wird hier dem der sozialen Gruppe angepasst. Zudem ist eine frühe Handlungsautonomie wichtig, Ziel ist, das Kind möglichst schnell an die Lebenswelt der Erwachsenen heranzuführen. Hierfür sind Gehorsam und Respekt innerhalb einer hierarchischen Gemeinschaftsstruktur erforderlich.

Verbundenheitsorientierung zeichnet sich durch eine sogenannte proximale Sozialisationsstrategie aus, welche die körperliche Nähe zum Kind durch seine Mutter, aber auch anderen Bezugspersonen beschreibt:

• Die ersten Lebensjahre sind geprägt von engem Körperkontakt und Körperstimulationen, um dem Kind Wärme und Geborgenheit zu vermitteln.
• Dem Kind gilt keine exklusive Aufmerksamkeit, seine Bedürfnisse werden zwar unmittelbar durch motorische Handlungen befriedigt, jedoch eingebunden in die Verrichtung täglicher Arbeit.
• In diesem Bindungsverständnis werden mehrere Bezugs- und somit auch Bindungspersonen für ein Baby anstrebt (vgl. Weberling, 2015, S.9 f.).

Prototypische Verläufe

Beschrieben sind hier prototypische Verläufe, von denen sich in Familien in der Regel viele verschiedene Mischformen ableiten lassen, bei denen die Ausprägungen der Dimensionen Autonomie und Verbundenheit sehr unterschiedlich sind.
Hier in Deutschland stellen sich die angestrebten Erziehungsziele von Eltern, die mehr dem Modell der Verbundenheitsorientierung folgen, oft als hinderlich im Umgang mit (elementar-)pädagogischen Fachkräften dar. Dies soll an kurz am Beispiel „Schlafen“ erläutert werden:

Diese Gegenüberstellung zum Thema „Schlafen“ sollte aufzeigen, dass eine einfache Beobachtung von Unterschieden, ohne einen wertschätzenden Perspektivenwechsel vorzunehmen, nicht ausreicht, um das Handeln von Kindern und Eltern zu verstehen.

Hinweis
Elternratgeber, die Unterstützung dabei bieten, Kinder ans selbstständige Einschlafen zu gewöhnen, haben in autonomieorientierten Kontexten eine hohe Verbreitung (Borke/ Döge/ Kärtner, 2011, S. 24), weil die Fähigkeit des Alleine-schlafens bei uns als zentral angesehen wird.
Demgegenüber wird das Allein-schlafen-Lassen von Säuglingen und Kleinkindern in vielen Teilen Afrikas (eher verbundenheitsorientierte Modelle) sogar als eine Form der Kindesmisshandlung eingestuft und mit Haftstrafen belegt (Borke/ Döge/ Kärtner, 2011, S. 24 f).

Übrigens: in das kulturelle Erziehungsmodell werden wir hereingeboren bzw. wir wachsen in ihnen auf. Das eigene Erziehungsmodell wird dabei oft unreflektiert als allgemeingültiger Maßstab angesehen. Der Alltag in (elementar-)pädagogischen Einrichtungen ist häufig dadurch gekennzeichnet, dass Kinder, Eltern und pädagogische Fachkräfte mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und entsprechend unterschiedlichen Erziehungskonzepten aufeinandertreffen.
Da jedes Modell (egal ob kulturell oder erzieherisch) normative Vorstellungen darüber enthält, was richtig oder falsch ist, welche Ziele angestrebt werden sollen oder eben nicht, haben Menschen die Neigung, das, was ihnen vertraut ist und in ihre Denk- und Handlungsweise passt als „normal“ anzusehen.

Das, was aber nicht so vertraut/oder gar fremd ist oder vom eigenen Denkschema abweicht, lehnen sowohl Eltern als auch pädagogische Fachkräfte gegenseitig eher als unrichtig ab – jeder von seiner Blickrichtung. Und auch wenn diese Ablehnung meist unbewusst geschieht, birgt sie dennoch die Gefahr von normativen Bewertungsmaßstäben:
Das Verhalten von Kindern wird von pädagogischen Fachkräften häufig nach Kriterien bewertet, die möglicherweise nicht denen der Eltern entsprechen.
Hier kann eine kultursensible, inklusive Haltung, die von einem bewussten Perspektivenwechsel und einer ehrlichen Reflexion der eigenen Sichtweise ausgeht, helfen: Es gilt, die eigenen Denk- und Handlungsweisen zu erkunden und diese als eine (nicht die einzig richtige) Möglichkeit zu begreifen.

Quellen:

Borke, J., Döge, P. & Kärtner, J. (2011): Kulturelle Vielfalt bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren: Anforderungen an frühpädagogische Fachkräfte. Hrsg.: Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI).

Borke, J. & Keller, H.(2014): Kultursensitive Frühpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer.

Keller, H. (2013): Interkulturelle Praxis in der Kita: Wissen – Haltung – Können. Freiburg: Herder.

Weberling, B. (2015): Kultursensitivität als Grundlage pädagogischen Handelns- vom Verstehen unterschiedlicher Kulturen. http://www.kita-fachtexte.de

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