Annett Leisau

Jede Kompetenz braucht Zeit zum Wachsen sowie Raum für Zwischenschritte und Fehler(chen) – so auch die Mehrsprachigkeit.

Der Zweitspracherwerb setzt nie bei null an. Die Kinder haben bereits ein sprachliches Vorwissen und nutzen dieses. Dies erfolgt nicht bewusst, sondern intuitiv (Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein, 2009, S. 6).

Stolpersteine beim Mehrspracherwerb
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Sprachtransfer

Durch die Wechselbeziehung zwischen Erst- und Zweitsprache, kommt es beim Erwerb der Fremd- oder Zweitsprache immer mal wieder zu nicht-zielsprachlichen Formen („Fehlern“) verschiedenster Art. Der Einfluss der Erstsprache kann sich sowohl fördernd als auch hemmend auf den Lernprozess der zweiten Sprache auswirken. Fördert die Übertragung der erstsprachlichen Regeln auf die Zielsprache den Lernprozess, nennt man dies einen positiven Transfer, hemmt sie ihn, spricht man von einem negativen Transfer (vgl. Andziak, 2002, o. S.).

Positiver Transfer tritt auf, „wenn gewisse Strukturen der Muttersprache eine Entsprechung in der Zweitsprache aufweisen – wenn in diesem Punkt also eine Gemeinsamkeit zwischen Erst- und Zweitsprache besteht und die Übertragung der muttersprachlichen Regeln zu einer zielsprachlichen Äußerung führt“ (Andziak, 2002, o. S.). Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man den deutschen Satz „Ich bin 20 Jahre alt“ wörtlich ins Englische übersetze und die zielsprachliche Form „I am 20 years old“ produziert.

Negativer Transfer liegt zum Beispiel vor, wenn ein Franzose den Satz „J’ai 20 ans“ (Ich bin 20 Jahre alt) vom Französischen wörtlich ins Deutsche übersetzt und dies zu einer nicht-zielsprachlichen Form führt wie „Ich habe 20 Jahre“. Der negative Transfer wird auch Interferenz genannt.

Allerdings sind nicht alle systematischen „Fehler“ beim Zweitspracherwerb auf Interferenzen zurückzuführen. Man nimmt inzwischen sogar an, dass Interferenzen im natürlichen Spracherwerb nur eine kleine Rolle spielen und in erster Linie zu Beginn des Zweitspracherwerbs auftreten.

Sprachmischung

Wenn ein zweisprachiges Kind merkt, dass ein Gesprächspartner, die Herkunftssprache nicht versteht, so benutzt es eher den zielsprachlichen Wortschatz. Das bedeutet, dass Kinder schon frühzeitig unterscheiden können, welche Sprache sie mit welcher Person sprechen müssen, um verstanden zu werden.

Im Verlauf des Zweitspracherwerbs beginnen Kinder damit, „einzelne Wörter (meist Nomen) aus der Erstsprache in die Zweitsprache einzuflechten“ (Kath. Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, 2013, Modul 3, S. 15). So werden immer wieder einzelne anderssprachige Worte in den Sprachfluss gemischt: Code-switching.

In der Praxis sieht es dann so aus, dass Kinder Wörter aus der Familiensprache und der neuen Sprache nutzen – je nachdem welches Wort in welcher Sprache bereits zur Verfügung steht, oder dem Kind vorrangig einfällt; Puppe, piłka (polnisch für Ball); araba (türkisch für Auto); пить (pietch – russisch für trinken). Die Nutzung erfolgt dabei noch unabhängig von den Personen, mit denen gesprochen wird, sondern eher abhängig vom Kontext, in dem das eine oder andere Wort gehört oder gelernt wurde.

Das passiert besonders häufig am Anfang des Erwerbsprozesses, vor allem dann, wenn die Kinder in Äußerungsnot geraten, weil sie das deutschsprachige Wort nicht kennen und sich in dem Moment nicht anders zu helfen wissen, als auf ihre Erstsprache zurückzugreifen. Das ist aber ein ganz normaler Teil des Zweitspracherwerbs, die Häufigkeit nimmt mit zunehmender Sprachkompetenz ab. Allerdings können unbewusste Sprachmischungen auch bei kompetent bilingualen Erwachsenen beobachtet werden.

Seren (6 Jahre) spricht mit ihrer türkischen Erzieherin über das Geschenk, das sie zum Geburtstag bekommen hat: „Ich hab von mein hala Lauras Stern bekommen“ (hala: Tante väterlicherseits auf Türkisch). Nach einer kurzen Denkpause erläutert sie ihr Wechseln ins Türkische: „Ich hab hala jetzt auf Türkisch gesagt, weil es im Deutschen dafür nur „Tante“ gibt. Aber das könnte ja auch teyze auf Türkisch heißen“ (teyze: Tante mütterlicherseits auf Türkisch).
(Dieses und weitere Beispiele finden Sie hier: Landeshauptstadt Kiel, Amt für Schule, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Interkulturelle Pädagogik (2011): Mit mehreren Sprachen aufwachsen.)

Mit weiterer sprachlicher Übung sind die Kinder zunehmend in der Lage, die Wortschatzsysteme der verschiedenen Sprachen kompetenter auseinander zu halten. Das Kind wird sich der Verwendung mehrerer Sprachen immer mehr bewusst. Es bemerkt aktiv, dass zum Beispiel zu Hause und im Kindergarten unterschiedlich gesprochen wird und es beginnt häufiger, nach der Übersetzung zu fragen, zum Beispiel indem es auf Gegenstände zeigt und nach dem Namen fragt. Grammatische Strukturen werden anfangs noch nicht voneinander getrennt und oft auch noch nicht in Bezug auf die richtige Sprache angewandt, so werden beispielsweise die Artikel ausgelassen, wenn es auch in der Erstsprache keine Artikel gibt: „Ich lese Buch.“

Zweitsprachig aufwachsende Kinder entwickeln ihre Fähigkeiten in den einzelnen sprachlichen Teilbereichen (Lexik, Semantik, Morphologie, Syntax, Phonologie) nicht unbedingt gleichzeitig. Es kann sein, dass das Kind z. B. in der Morphologie sehr schnell Fortschritte macht, für den Erwerb der Syntax aber noch ein bisschen mehr Zeit benötigt. Als relativ typisch stellen sich folgende Strukturen dar (vgl. Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein, 2016, S. 8)

• Kinder wählen in der Regel zu Beginn einen bestimmten einfachen Satz aus, den sie immer wieder in anderen Zusammenhängen verwenden („ist“-Sätze – mit und ohne Verb): z. B. „die rot, die kaputt“.
• Auch vollständige Redewendungen werden schnell übernommen und sehr oft eingesetzt.
• Verneinungen kommen hinzu: z. B. „nein kaputt“. Im weiteren Verlauf wird das Wort „nicht“ eingesetzt: „Peter nicht kommen“.
• Vereinfachungen / Auslassungen (ausgelassen werden insbesondere Pronomen, Artikel, Präposition, Hilfsverben / Modalverben).
• Erst allmählich erfolgt eine korrekte Satzstellung.

„Von vornherein versucht ein Kind auf der Basis eines gelungenen Erstspracherwerbs also die zweite Sprache in vorhandene Satzstrukturen einzubinden, auch wenn die korrekte Satzstellung nicht von Anfang an möglich ist“ (Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein, 2016, S. 8).

Quellen:

Andziak, Justyna (2002): Spracherwerbstheorie. Der Einfluss der Muttersprache auf den Erwerb einer Fremdsprache.

Kath. Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz – LAG e. V. für den Trägerverbund FIF (2013): Sprache – Schlüssel zur Welt. Materialien zur Qualifizierung von Sprachförderkräften in Rheinland-Pfalz. Selbstlernmaterialien zu Modul 3: Wahrnehmung und Beschreibung kindlicher Sprachentwicklungsprozesse II.

Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein (Hg) (2016): Sprachliche Bildung in Kindertageseinrichtungen. 4. erweit. Aufl. Kiel

Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein (Hg) (2009): Spielerische Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen Grundsätze, Tipps, Spielideen, Sprachabenteuer, Materialien.

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