Sprache ist für uns so selbstverständlich, dass wir oft vergessen, welch komplexer Prozess hinter ihrem Erwerb steckt. Schon vom ersten Schrei an trainieren Kinder ihre Stimme, koordinieren Atmung und Mundbewegungen – und nutzen dabei nicht nur ihr Gehör, sondern alle Sinne. In diesem Beitrag erfahren Sie, welche körperlichen und sinnlichen Voraussetzungen ein Kind für das Sprechenlernen braucht, wie Wahrnehmung funktioniert und warum die Zusammenarbeit aller Sinne – die sensorische Integration – der Schlüssel zu einer erfolgreichen Sprachentwicklung ist.

Kind in gelbem T-Shirt spielt mit einer Holzeisenbahn auf dem Fußboden

„Von Geburt an ist der Mensch mit der Fähigkeit, Sprache zu erwerben und zu kommunizieren, ausgestattet“ (Zimmer, 2013, S. 76). Doch damit sich diese Sprachfähigkeit wirklich entfalten kann – also ein Kind Wörter versteht, ausspricht und auch grammatisch richtig verwendet –, braucht es mehr als nur Talent. Anatomische, kognitive, psychische und sinnliche Voraussetzungen sind entscheidend.

Neben einer gesunden körperlichen Entwicklung spielt vor allem das Gehör eine zentrale Rolle. Aber auch andere Sinne tragen ihren Teil dazu bei: Blickkontakt, das visuelle Erfassen von Gegenständen, die Koordination von Sehen und Bewegung oder die Fähigkeit zur Nachahmung (Zimmer, 2013, S. 80) – all das fließt in den Prozess des Spracherwerbs ein.

1. Organische Voraussetzungen des Spracherwerbs

Zum Sprechen benötigen Kinder gut ausgebildete Sprechwerkzeuge und Artikulationsorgane, zum Beispiel:

* Atmung: Zwerchfell, Lunge, Bronchien
* Stimmgebung: Kehlkopf, Stimmlippen und Stimmbänder
* Artikulation: Kiefer, Rachen, Mundhöhle, Gaumen, Zähne, Zunge, Lippen, Nase

Diese Strukturen arbeiten zusammen wie ein komplexes Orchester aus Muskeln, das vom Gehirn über Nervenleitungen gesteuert wird (Wendlandt, 2017, S. 23). Schon der erste Schrei eines Neugeborenen ist Training: Die Stimmbänder werden beansprucht, Atmung und Artikulationsorgane arbeiten zusammen. Gleichzeitig lernt das Kind erste kommunikative Strukturen: *Ich schreie – jemand reagiert.* Das kann bedeuten, dass es Hunger hat, Bauchweh, eine volle Windel oder einfach Nähe braucht.

Um sprechen zu können, muss das Kind später Mund- und Zungenbewegungen präzise steuern, die Lippenmuskulatur anspannen und die Atmung kontrollieren. Diese Bewegungsabläufe sind besonders anspruchsvoll, weil das Kind sie – anders als Hand- oder Fußbewegungen – nicht sehen kann.

2. Wahrnehmung – die Grundlage sprachlicher Kommunikation

Sprache lebt von Wahrnehmung. Das Gehör ist wichtig, keine Frage – doch auch die anderen Sinne sind unverzichtbar. „Die Sinne sind unsere Antennen, über die wir mit der Umwelt kommunizieren“ (Zimmer, 2012, S. 14). Über die Anzahl der Sinne streiten Fachleute. Die bekannten fünf Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten – sind nur ein Teil des Bildes. Je nach Definition können es bis zu 13 Sinnesbereiche sein (Zimmer, 2012, S. 53 ff.):

* Höhere Sinne: Sehen, Hören
* Niedere Sinne: Tasten, Schmecken, Riechen
* Fernsinne: Hören, Sehen, Riechen
* Nahsinne: Körpergefühl, Tastsinn, Haptik, Kinästhetik, Gleichgewichtssinn, Schmerzwahrnehmung, Schmecken

Die Fähigkeit, Sinneseindrücke aufzunehmen, ist (meist) angeboren. Kinder nutzen ihre Sinne, um die Welt zu erkunden:

* Sie hören und sehen.
* Sie fühlen und spüren.
* Sie riechen und schmecken.
* Sie bewegen sich.

Doch Wahrnehmung muss trainiert werden, sonst kann sie verkümmern. Eine feine Sinneswahrnehmung ist nicht nur für den Spracherwerb wichtig, sondern auch für den aktiven und kompetenten Umgang mit der Umwelt. Renate Zimmer definiert Wahrnehmung als „den Prozess der Informationsaufnahme aus Umwelt- und Körperreizen (äußere und innere Wahrnehmung) und der Weiterleitung, Koordination und Verarbeitung dieser Reize im Gehirn“ (Zimmer, 2012, S. 30). Dieser Prozess besteht aus zwei Teilen:

1. Informationsaufnahme – objektives Erfassen eines Reizes
2. Verarbeitung – Umwandlung in persönliche Empfindungen und Bewertungen

Beide Schritte müssen bei jedem Sinn zusammenspielen, damit Sprache störungsfrei erworben werden kann.

Beispiel:
Ein Kind sieht einen roten Ball (objektive Wahrnehmung), erinnert sich, dass Mama ihn vorher hin- und hergerollt hat, und möchte nun danach greifen. Ein anderes Kind, das vom Ball einmal getroffen wurde, reagiert mit negativen Gefühlen – obwohl der objektive Reiz derselbe ist.

3. Sensorische Integration – das Zusammenspiel aller Sinne

Damit Sprache sich entwickeln kann, reicht es allerdings nicht, dass jeder Sinn einzeln funktioniert. Alle Sinne müssen zusammenarbeiten – ein Prozess, der sensorische Integration genannt wird.

Integration bedeutet, verschiedene Sinneseindrücke zu einem sinnvollen Ganzen zu verknüpfen. Sinnesinformationen strömen ununterbrochen ins Gehirn – nicht nur von Augen und Ohren, sondern von jeder Stelle des Körpers. Diese Flut an Eindrücken muss geordnet und verarbeitet werden, damit wir handeln, sprechen und mit unserer Umwelt interagieren können (Ayres, 2016, S. 6).

Fazit:

Spracherwerb ist weit mehr als das Lernen von Wörtern. Er ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Körper, Sinnen und Gehirn. Ein Kind braucht funktionierende Artikulationsorgane, feine Wahrnehmungsfähigkeiten und eine reibungslose Integration aller Sinneseindrücke, um die eigene Sprache zu finden – und damit den Schlüssel zur Welt.

Quellen: 

Zimmer, R. (2012): Handbuch Sinneswahrnehmung: Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung (2. Auflage der überarb. Neuauflage). Herder Verlag.
Zimmer, R. (2013): Handbuch Sprachförderung durch Bewegung (6. Auflage). Herder Verlag.
Ayres, A. J. (2016): Bausteine der kindlichen Entwicklung (6. Auflage). Springer-Verlag.

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