Annett Leisau

Die Familiensprache bildet das Fundament der weiteren sprachlichen Entwicklung eines jeden Kindes. Eine Entwicklung, die gerade mit Blick auf die Kinder mit Fluchterfahrung, hier in Deutschland angekommen, in einer anderen als der bis dahin verinnerlichten, vertrauten Sprache fortgesetzt werden muss. Die Schwierigkeiten, die sich aus diesem Wechsel der Sprachen für die Kinder entstehen können, sollen in diesem Beitrag besprochen werden. Denn spätestens beim Eintritt in den Kindergarten gewinnt die deutsche Sprache als Kommunikations- und Beziehungssprache für Kinder an Bedeutung.

Die Mutter bringt ihr Kind in den Kindergarten
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Kindergarten als neue Welt ohne Deutsch

Der Eintritt in den Kindergarten bedeutet für viele Kinder auch einen Eintritt in eine neue Welt. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Plötzlich muss ein Kind in der ihm unbekannten Institution ohne Mama und Papa, dafür aber mit vielen fremden Kindern und Erwachsenen den Tag verbringen. Dieser Schritt ist für viele mit großen Ängsten und Sorgen verbunden. Die sprachliche Unsicherheit der nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsenen Kinder kommt zu den Ängsten und Sorgen noch hinzu.

Sobald es den Gruppenraum betritt, werden die meisten Kontakte in der deutschen Sprache stattfinden. Das Kind nimmt an der Beschäftigung teil, sitzt im Stuhlkreis, spielt mit anderen Kindern und handelt mit ihnen die Spielregeln aus, wendet sich an die Erzieherin und den Erzieher bei Fragen, Problemen oder Bitten – und das alles sollte möglichst schnell in der deutschen Sprache erfolgen. Zwar ist der Umgang mit den bereits in der Erstsprache erworbenen Kenntnissen und Erfahrungen von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich, allerdings kann festgehalten werden, dass andere als die deutsche Umgebungssprache, in vielen vorschulischen Einrichtungen nur wenig bis gar nicht präsent sind.

Auch auf Grund seiner bereits erworbenen erstsprachigen Kompetenzen konnte das Kind schon ein gewisses Maß an Selbstständigkeit erlangen. Es konnte mit anderen Personen in Kontakt treten, es konnte nach Gegenständen fragen, um Hilfe bitten und mit Kindern interagieren. Nun, wo ihm seine Familiensprache nicht mehr zur Verfügung steht, wird das Kind einen großen Entwicklungsschritt zurückgeworfen.

Selektiver Mutismus

Auf die daraus resultierende sprachliche Unsicherheit reagieren einige Kinder gerade zu Beginn der Kindergartenzeit mit auffälligen Verhaltensweisen. Sie ziehen sich zurück oder reagieren übertrieben aggressiv. In einigen Fällen verstummen die Kinder während des Aufenthaltes im Kindergarten für ein paar Wochen (manchmal sogar ein paar Monate) vollständig. Man spricht in solchen Fällen von selektivem Mutismus. Selektiv deshalb, weil sich das „Verstummen“ zumeist nur auf die Zeit im Kindergarten, manchmal auch nur auf die Gruppe der Erzieher bezieht und die Kinder zu Hause im bekannten sprachlichen Umfeld durchaus und mit sehr viel Elan sprechen. Wenn diese Kinder nach ihrer „Auszeit“ auch im Kindergarten zu sprechen beginnen, überraschen sie ihre Erzieherin oder ihren Erzieher häufig mit erstaunlich guten Deutschkenntnissen.

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